Bundesweit waren 1.651 Beiträge von rund 5.640 Teilnehmenden eingegangen. In den vergangenen Wochen hatten die Mitglieder der Landesjurys alle Arbeiten begutachtet und mit den Beiträgen im jeweiligen Bundesland verglichen.
Für die Schülerin der 11. Jahrgangsstufe des Vicco-von-Bülow-Gymnasiums Stahnsdorf gab es mehrere Anlässe, sich dem Thema zu widmen: Ein Verwandter von ihr lebt seit Jahrzehnten mit einer Körperbehinderung. Außerdem erschütterten sie die Morde an den vier Bewohnerinnen und Bewohnern des Oberlinhaus – Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K. – am 28. April 2021 durch eine Mitarbeitende. Auf 50 Seiten beschreibt die junge Frau wie das Wohnen von Menschen mit Behinderungen vom jeweiligen Gesellschaftsdiskurs über den Umgang mit solchen abhängig ist und sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Sie blickt dabei speziell auf den Zeitraum von der Gründung des Oberlinhaus im Jahr 1871 bis zur NS-Zeit.
Anhand von drei Fallbeispielen stellt Paula Spikermann dar, wie das Oberlinhaus für seine Bewohnerinnen und Bewohner, Hertha Schulz, Beate Rosenthal und Werner S., aus historischer Perspektive dem Anspruch gerecht wurde, ein Schutzraum zu sein und es ein – für die damalige Zeit – „unvergleichbar fortschrittliches Wohnen“ ermöglichte. Das Wohnen im Oberlinhaus habe Menschen – selbst mit schweren Mehrfachbehinderungen wie Taubblindheit – Möglichkeiten der Entfaltung, des Lernens und Arbeitens sowie Gemeinschaft geboten.
Die von manchen Seiten erwogene Anfälligkeit für Missbrauch und Gewalttaten ist, ihres Erachtens nach, kein Phänomen von Institutionen wie dem Oberlinhaus, sondern unserer Gesellschaft und des Menschen, der immer auch zur Inhumanität in der Lage ist und sich derer zu bemächtigen versucht, die er für schwächer hält. In diesem Kontext sei das Oberlinhaus ein außergewöhnlicher Wohnort, der sich der Humanität verschrieben habe.
Paula Spikermann kommt zu dem Schluss, dass jeder Mensch mit und ohne Behinderung das Recht haben sollte, sich für einen Wohnort und eine Wohnform frei zu entscheiden – ob in der Familie, in Wohngemeinschaften oder Wohnstätten für Menschen mit Behinderungen, den besonderen Wohnformen. Dieser freien Entscheidung stünden Einrichtungen wie das Oberlinhaus nicht im Weg, jedoch Barrieren innerhalb unserer Gesellschaft, die Menschen mit Beeinträchtigungen veranlassen können, ein Wohnen in einer Einrichtung zu wählen. Ihr Fazit: Einrichtungen wie die Wohnstätten im Oberlinhaus sind notwendig. Verändert werden müssen die Umstände, die dazu führen, dass eine Einrichtung heute oft als die einzig sinnvolle und lebbare Option erscheint.
Die Lehrerin Dr. Manuela Sissakis begleitete und unterstützte Paula Spikermann als Tutorin bei deren Spurensuche. Die Landessiegerin kann sich über ein Preisgeld in Höhe von 500 Euro freuen. Für sie ist der Wettbewerb damit noch nicht zu Ende: Sie hat die Chance, auf Bundesebene mit einem von 50 Bundespreisen ausgezeichnet zu werden. Die Ergebnisse der Bundesjury werden zur Verleihung der ersten fünf Bundespreise durch den Bundespräsidenten am 14. November 2023 in Berlin bekannt gegeben.